eForum zeitGeschichte 2/3 2002

memoryPROJECTS1

Gert Tschögl / Eva Brunner-Szabo

Seit Herbst 1997 führt memoryPROJECTS Projekte in virtuellen und in realen Räumen durch. memoryPROJECTS agiert wie ein Museum ohne Gebäude und ohne festen Ort, das temporär in den öffentlichen Raum eindringt und sich der klassischen Aufgaben eines Museums - Finden/Sammeln, Erhalten/Archivieren, Präsentieren/Vermitteln - annimmt. memoryPROJECTS unternimmt aber auch künstlerische Eingriffe, die sich der Erinnerung und des Gedächtnisses der RezipientInnen bemächtigen. memoryPROJECTS versteht sich als "work in progress".

http://www.t0.or.at/~memoryproject

Erinnerung und Fotografie

Am Vorabend der vielerorts der Fotografie nachgesagten Ablöse der traditionellen, auf der Fotochemie basierenden Technologie durch die Digitalisierung des Bildes hat die Quantität der belichteten Bilder ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Ende der 20er Jahre zunehmende Verbreitung von Fotokameras brachte einen "Apparat" unter die Leute, mit dem es möglich ist, historische Ereignisse visuell aufzuzeichnen, zu archivieren und wieder abrufbar zu machen. Neben der von Generation zu Generation durch die Erzählung weitergegebene Geschichte, die Kulturanthropologie nennt es die oral tradition, und der schriftlichen Form stellt das fotografische Abbilden historischer Ereignisse die dritte wichtige Mnemotechnik dar, derer sich das Gedächtnis bedient, um sich an Vergangenes erinnern zu können.

Im Moment des Betätigen des Auslösers legen Fotografen eine Spur in die Zukunft, einen unsichtbaren Faden, entlang dessen die Erinnerung zu den bedeutsamen Augenblicken zurückfindet.2 Hier vollzieht sich auch das, was Ricoeur als die Dialektik zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont beschreibt und die Dynamik des historischen Bewusstseins gewährleistet. Im Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte, wobei der Terminus Geschichte hier für die erzählte oder geschriebene Geschichte von den vergangenen Dingen steht, stellt die Geschichte eine kritische Instanz des Gedächtnisses dar. Vermittelnd setzt dabei die Erzählung als sprachliches Medium ein.3

Doch es sind nicht nur die von den Geisteswissenschaften favorisierten textorientierten, sprachlichen und schriftlichen Quellen, die dem Erinnern den Zugriff auf das Gedächtnis ermöglichen und erleichtern, sondern auch visuelle, auditive, haptische, den Geschmacks- und Geruchssinn betreffende "Bilder der Erinnerung". Diese sind jedoch nicht den Regeln linearen Erzählens unterworfen, sondern stellen sich oft plötzlich ein - und in unterschiedlichen Weisen.4 Hierbei spielt die Fotografie, allen voran die private Fotografie, die Pressefotografie und die dokumentarische Fotografie, eine nicht unbedeutende Rolle im Prozess des visuellen Erinnerns.

Der französische Soziologe Maurice Halbwachs sah das Gedächtnis als von sozialen Gruppen konstruiert. Die Erinnerung des Einzelnen ist eine bildliche, doch die sozialen Gruppen sind es, die darüber bestimmen, was des Andenkens wert ist und wie es erinnert wird. Das Individuum identifiziert sich nach Halbwachs mit den öffentlichen, für seine Gruppe wichtigen Ereignissen.5 Individuelles wie auch kollektives Gedächtnis stehen demnach in einem nicht genauer definierten Verhältnis zueinander, das an dieser Stelle nicht genauer ausgeführt werden soll. Wie sonst wäre es möglich, die Bedeutung von anonymen privaten Fotografien ohne Wissen um den Kontext des Entstehens, wenngleich in unterschiedlichen und individuellen Weisen, decodieren zu können und die Bilder auch in ein Verhältnis zum eigenen Gedächtnis und zur Geschichte einordnen zu können?

Das Herstellen dieses Verhältnisses äußert sich auch in der Erzählung, die vermittelnd und erklärend eingreift. Was sich beim genaueren Betrachten von Fotografien als Mitteilungsbedürftigkeit zeigt, ist jedoch nichts anderes als das sich artikulierende Bewusstsein um die eigene Geschichtlichkeit. Fotografien, in diesem Sinne private und dokumentarische Fotografien, bilden, und damit finden wir zum Ausgangsgedanken des Projekts Museum der Erinnerungen, mit der begleitenden Erzählung eine Einheit.

Eine Einheit, die auch John Berger sieht, wenn er schreibt: "In der Beziehung zwischen einer Photographie und Worten verlangt die Photographie nach einer Interpretation, und die Worte liefern sie ihr gewöhnlich. Die Photographie - als Beweis unwiderlegbar, aber unsicher, was den Sinn angeht - erhält Sinn erst durch Worte."6 Die Beweiskraft der Fotografie ist für ihn erst durch den begleitenden Text gegeben, aber auch gefährdet.

Für den Betrachter einer Fotografie ist es nur vordergründig wesentlich, ob das Foto aus dem Zusammenhang seiner eigenen Geschichte stammt oder aus einem für ihn fremden und anonymen Kontext gerissen wurde. Eine "fremde" Fotografie fordert nur eine höhere Abstraktionsleistung, um als auslösendes Moment für die Erinnerung zu fungieren. Wichtiger noch scheint der erzählerische Zusammenhang zu sein, der dem Bild Bedeutung für die eigene Familiengeschichte vermitteln kann und so die Spuren zur individuellen Geschichte aufnimmt oder, im Fall eines aus fremdem Zusammenhang stammenden Bildes, den Dialog mit dem erinnerungsauslösenden Foto beginnt. Im Akt der Erzählung wird der Erzähler zum handelnden und erlebenden Subjekt der Geschichte gemacht.

Und während die Theorie die Zusammengehörigkeit von Bild und Text postuliert, macht sich der künstlerischer Zugang in diesem Projekt auf, diese Einheit zu zerschlagen oder vielmehr sie bloßzustellen.

Was sich vom Standpunkt des wissenschaftlichen Zugangs dieses Projekts als methodisches Experiment, über das Bild zu Erinnerungen zu gelangen, darstellt, ist vom künstlerischen Zugang her der in den 70er Jahren entstandenen Richtung der Spurensicherung (story-art) zuordenbar.

Der Künstler will dabei das Erinnern - wie auch in der Wissenschaft und in der Museumspraxis - durch Dokumente, Bilder und Gegenstände systematisieren. Nicht unähnlich der Archäologie wird durch freigelegte Reste auf vergangene Zustände geschlossen. Dabei ist der Künstler aber nicht an historischer Genauigkeit und objektiver Rekonstruktion interessiert, auch wenn er ausgräbt, sammelt, inventarisiert und klassifiziert, denn "... zum Selbstverständnis der Spurensicherung gehört ihre scheinbare Wissenschaftlichkeit".7 Vielmehr kommt es ihm darauf an, die persönliche Erinnerung aufzustacheln und damit die in der Lebensgeschichte jedes Einzelnen hinterlassenen fragmentarischen Erinnerungsspuren auszugraben und mit anderen in vergleichende Verbindung zu bringen. Die Vieldeutigkeit des Bildes wird durch die Variationen des von ihr ausgelösten Erinnerns offenbar. Die Individualität des Decodierungsvorganges ist offensichtlich. Die Sprache der Fotografien ist universell - die Erinnerung der Betrachter ist individuell.

Erinnerung und Fiktion

Vor wenigen Jahren erst wurden bislang unveröffentlichte dokumentarische Filmaufnahmen aus dem zerstörten Deutschland des Jahres 1945 im Fernsehen gezeigt. Die Aufnahmen stammen aus einem amerikanischen Archiv. Das Besondere an diesen Aufnahmen: Sie sind in Farbe gedreht. Das zerstörte Dresden, es schien die Sonne, es war strahlend blauer Himmel, man sah Frauen mit roten Kleidern.

Diese Aufnahmen waren ungewöhnlich und unfassbar für uns. Während wir diese Aufnahmen sahen, wurde uns bewusst, dass sich die Zeitgeschichte in Schwarzweißbildern in unser Denken eingeprägt hat. Dadurch konnten wir diese Filmaufnahmen kaum als historische Dokumente akzeptieren. Es stellte sich uns mehrmals während der Fernsehsendung die Frage: Sind das wirklich dokumentarische Aufnahmen? Sind sie nicht inszeniert, heute nachgestellt irgendwo in einem Filmstudio und nicht doch eine Spieldokumentation?

Diese Filmaufnahmen vereinen viele Fragen, die sich für uns in unserer künstlerischen Arbeit immer wieder stellen: der Komplex Dokumentation versus Inszenierung. Dazu gehören für uns die Fragen: Was sind dokumentarische Fotos? Was kennzeichnet sie? Woran erkenne ich sie? Dürfen Dokumentation und Inszenierung vermischt werden? Muss man dies dem Betrachter mitteilen, wenn es gemacht wird? Wieso zwingt die Fotografie und der Dokumentarfilm jemanden zu glauben? Welche Rolle spielt der Text bei Fotografien, die Sprache beim Dokumentarfilm?

Diese Fragestellungen begleiten auch unsere Arbeiten, die sich mit den Themen Erinnern, Gedächtnis und Geschichte auseinandersetzen. Erinnerung ist zwar einerseits stark vom Abbildungserlebnis geprägt, nicht umsonst werden Fotografien auch als die "Schleuse, die Erinnerungen öffnet" (Heinrich Riebesehl) bezeichnet. Andererseits fließen aber Objektives und Subjektives in die Erinnerung ein; Wirklichkeit und Fiktion gehen ineinander über.

Das Tagebuch der Republik (Präsentation in Wien 1994/95) war ein Projekt, das sich diesen Widerspruch zum Thema machte. Das dem Projekt Tagebuch der Republik zugrunde liegende Konzept einer in Plakatform erzählten Geschichte Österreichs von 1918 bis 1955 sah eine doppelte Zugangsweise vor: Der wissenschaftliche Ansatz ist methodisch als Oral History zu sehen, eine Geschichtsbetrachtung aus der Sicht von Zeitzeugen. Es wurden Interviews zu einzelnen Zeitabschnitten zu den Themen Politik, Wirtschaft, Kultur und Alltag aus der persönlichen Sicht und Anschauungsweise der Interviewpartner gemacht.

Der zweite Ansatz dieses Konzeptes ist der des "Fiktiven", das für die Leser eine emotionale Nähe zur Geschichte schafft und durch die Form des Textes erreicht wird. Ohne die inhaltliche Wiedergabe historischer Erfahrungen der Zeitzeugen zu verfälschen, erfolgte die formale Umsetzung durch die Textform eines fiktiven Tagebuches. Diese einzelnen Tagebucheintragungen, Zitate aus den Interviews, spiegeln die Berichte und Erfahrungen der Zeitzeugen wider. Durch dieses künstlich geschaffene (fiktive) Tagebuch konnten nun unterschiedliche Anschauungen und Lebenswelten in einem gemeinsam erzählten Rahmen untergebracht werden. Geschichtsschreibung sollte mit diesem Projekt aus der Wissenschaftlichkeit herausgelöst werden, um so historische Ereignisse auch für jene nachvollziehbar zu machen, denen die Sprache der Historiker unverständlich ist. Als Tagebuch der Form nach fiktiv, hält sich der Inhalt an die Tonbandaufzeichnungen der Interviews.

Die Fotos, die wir für diese 38 Plakate ausgewählt hatten sind inszenierte Fotos (Atelierfotos), dokumentarische Fotos (Pressefotos) und Schnappschüsse (anonyme Fotos von Amateuren). Sie stammen aus dem Privatbesitz der Zeitzeugen, aus Bildarchiven, vom Flohmarkt. Manche sind von uns überarbeitet, korrigiert und angepasst worden. Schon in der Entwurfsphase der Fotoplakate, die im öffentlichen Raum in Wien über 38 Wochen affichiert wurden, war uns bewusst, dass viele der Betrachter die Tagebuchgeschichte in Verbindung mit den Schwarzweißfotos als eine reale Geschichte ansehen würden. Beim Tagebuch der Republik sollte angesichts des Umstandes, dass man Farbfotos für den Zeitraum 1900-1960 keinen wirklichen Dokumentarcharakter zubilligt, zumindest auf der Bildebene die Realität gebrochen werden. Die Schwarzweißfotos wurden daher mit einem Farbverlauf belegt.

Auch hatten wir schon ähnliche Erfahrungen bei dem 1993 entstandenen Film "99 Bilder - 3 Reisen und ein Ende" gemacht. Bei diesem Film hatten wir auf Grund von 99 gefundenen Fotos aus der Jahrhundertwende eine Geschichte entwickelt, die dann in den 40-minütigen Film einfloss. Wir hörten bei dieser Arbeit oft den Vorwurf, uns nicht an die Ethik des Dokumentarfilms gehalten zu haben. Die Geschichte, die der Film erzählt, wurde nämlich für eine reale Tagebuchaufzeichnung gehalten.
"Dokumentarisches mit löchriger Fiktion verbindet auch Eva Brunner-Szabo in 99 Bilder - 3 Reisen und ein Ende. Sie folgt Spuren, die antiquarisch erstandene Reisebilder hinterlassen haben, und versucht, auf der Reise, die sie im Lauf der Suche nach dem Fotografen unternimmt, eine Geschichte zu rekonstruieren. Detektivisch werden Indizien gesammelt und in Zusammenhänge gebracht, die schnell wieder zweifelhaft erscheinen. Die Fotografie, der gerne der Abdruck der Realität als Qualität zugeschrieben wird, stellt sich als unzuverlässig heraus."8
Im Laufe der Arbeit am Tagebuch der Republik wurde uns auch immer mehr bewusst, wie stark der Text den Bildeindruck verändert. Diese Erkenntnis war auch eine der Antriebsfedern für unsere Projekte, die wir unter dem Titel Museum der Erinnerungen begannen.

Erinnern im öffentlichen Raum - Museu de Memòries in Calaf/Spanien9

Der öffentliche Raum mit seinen Denkmälern ist in einem gewissen Sinn die räumliche Zone des Nicht-Privaten, das Gegenstück zum individuellen Gedächtnis. Während der öffentliche Raum als Medium für ein kollektives Erinnern gesehen werden kann, in welchem Denkmäler dem Nicht-Vergessen und dem Bewusstsein gemeinsamer Geschichte dienen, stellt das individuelle Gedächtnis jene Zone dar, in der individuell verarbeitete Geschichte abgelegt werden kann. Das Berühren und Hervorrufen individueller Erinnerungen innerhalb des öffentlichen Raumes ist daher, unabhängig vom Inhalt, seiner Form nach schon provokativ.

"Einst gab es in England einen Beamten der den Titel 'Remembrancer' trug, in Wahrheit war dies ein Euphemismus für den Schuldeneintreiber. Es gehörte zu seiner Pflicht, die anderen an das zu erinnern, was sie selbst gern vergessen wollten."10 Als "Remembrancer" zu arbeiten ist eine der wichtigsten Aufgaben, die ein Künstler wahrzunehmen hat. In diesem Sinne sehen wir uns als "Remembrancer", die Erinnerungen antasten, Verdrängtes wachrufen. Tun wir dies in einem für uns fremden öffentlichen Raum, so wird dies meist als Provokation, als Eingriff von außen empfunden. Doch was bedeutet "außen" in einem zusammenwachsenden Europa, in dem das Kapital längst keine Grenzen kennt und, wie der Fall Österreichs im Feber 2000 zeigte, die Staatengemeinschaft auch daran geht, das beengende nationalstaatliche Denken zu überwinden und auch demokratiepolitische Maßstäbe über die Grenzen hinweg durchzusetzen.

Die Formen des Erinnerns und der Umgang mit der Geschichte sind überall in Europa von Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten gekennzeichnet. Verdrängung, Vergessen, Heroisierung, Fälschen, im positiven Sinne Mahnen und Erinnern sind Methoden, deren Menschen sich bedienen, um die Geschichte zu verarbeiten. Die Diskussionen darüber sind uns durch den Umgang mit der österreichischen Geschichte vertraut.

Das Projekt Museu de Memòries will nicht vordergründig Mahnen oder Gedenken, sondern einen Prozess in Gang setzen, der den öffentlichen Raum zum Medium für die Auseinandersetzung mit der persönlichen Erfahrung der Geschichte macht. Unbewegliche Denkmäler, die in alle Ewigkeit mahnen wollen, werden vom öffentlichen Raum aufgesogen. In unserer beschleunigten Welt werden sie zu alltäglicher Unauffälligkeit. Erst durch den Abriss wird man ihrer durch das Entstehen des Vakuums in der gewohnten Topographie des öffentlichen Raumes gewahr.

Am Plaça dels Arbres in Calaf (Barcelona) wurde 1942 das Denkmal für die im Spanischen Bürgerkrieg gefallenen Soldaten der Franquisten errichtet. Über die Opfer Francos schwieg das Monument. Jahre nach Francos Tod wurde das steinerne Denkmal abgetragen. Ein kleinerer Gedenkstein für alle Opfer des Bürgerkrieges steht jetzt am Rande des Parks. Der kleine Park ist einer der meistgenutzten öffentlichen Plätze von Calaf. In der Mitte des Platzes, wo sich heute die sternförmig überschneidenden Wege der Passanten treffen, stand das Denkmal der gefallenen Franquisten.

Die Installation des roten Kubus mit 3x3 Meter Breite und einer Höhe von 2,70 Meter stellt sich an dieser Stelle den Passanten in den Weg. Doch die Installation verbirgt zunächst etwas. Passanten müssen sich der Installation nähern und durch Sehschlitze in das Innere schauen, denn die Installation ist nach innen gewandt. Dies ist der erste Schritt, den die Passanten tun müssen. Im Inneren des Kubus befinden sich Fotografien aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und auch aus der Zeit danach. Einige Fotografien wurden im Juli 1999 in Calaf gemacht; Wandparolen mit politischen Symbolen. Ihrer Zeit und ihrem Kontext entrissen werden diese Zeichen an den Hausmauern zum Nachweis dafür, dass es in der Geschichte keine Stunde Null gibt. Ideen, Anschauungen, Symbole überdauern Perioden, bilden neue Inhalte, Formen und Kontexte heraus und tauchen in neuen Zusammenhängen in neuen Zeitepochen wieder auf.

Die anderen Fotografien stammen aus Archiven, den visuellen Speichern der Geschichte. Niemand wird sie dem Ort oder den abgebildeten Personen zuordnen können. Doch viele werden diese Bilder als Zeichen dechiffrieren können, deren visueller Code direkt die individuellen Erinnerungen anspricht. Die Installation sehen wir als Metapher für Verdrängtes und Vergessenes, zu deren Erhellung es einer Anstrengung bedarf; man muss sich zu den Bildern hinbemühen. Sich-erinnern-Wollen ist auch ein Akt des Überwindens von Barrieren.

Die Installation ist temporär und bleibt drei Wochen stehen. In dieser Zeit werden Plakate mit Parolen aus der Zeit des Bürgerkriegs, Anordnungen aus der Zeit der Diktatur und mit unseren Fragen an die Bewohner der Stadt affichiert. Jeder Text hat auch eine Referenz zu einem der Fotos in der Installation. Neben den Fotografien sollen so auch die Wörter das Erinnern aufstacheln.

In diesen drei Wochen werden auch Bücher an verschiedenen Stellen in der Stadt aufgelegt, in die man seine Anmerkungen, Kommentare, Schilderungen und Erinnerungen niederschreiben kann. Und dies ist der zweite Schritt, den die Bewohner tun müssen, denn erst auf diese Weise entsteht eine aus fragmentarischen Erinnerungen zusammengesetzte Gedächtnislandkarte Calafs. Auch über den dokumentarischen Wert hinausgehende, gegenwärtige Rezeptionen der Geschichte und der Umgang mit ihr können in diesen Büchern ihre Spuren hinterlassen.

Epilog

Noch am Tag der Eröffnung der Installation war das Buch, das direkt am roten Installationskubus aufgelegt wurde, voll geschrieben; Texte der unterschiedlichsten Natur: knappe Worte, politische Parolen, historiographische Aufzeichnungen über Ortserinnerungen, Graffitis. Junge und alte BewohnerInnen von Calaf schrieben nieder, was die Fotos in der Installation in ihnen auslösten.

Wir führten zwar während der zehntägigen Aufbauphase, die man am besten mit einer Performance vergleichen könnte, da sie ja mitten am Hauptplatz von Calaf stattfand und wir als KünstlerIn ständig präsent waren, zahlreiche Gespräche mit den BewohnerInnen von Calaf, und schon in dieser Aufbauphase reichte das Interesse von Neugier und "Wir finden das ganz wichtig!" über "Was bringt das, ist ja schon so lange her?" bis hin zu "Plakaten mit Parolen der Francozeit - das können Sie nicht aufhängen, das hängt keine Stunde!" und "Nur jemand von außen kann sich so mit der Francozeit auseinandersetzen!". Wir wussten also, dass wir Reaktionen auf dieses doch provokante Projekt zu erwarten hatten. Diese Massivität der Reaktionen war für uns dann doch einigermaßen überraschend, im positiven Sinne.

Das Projekt Museu de Memòries zeigte uns auch, dass eine solche Art der Auseinandersetzung mit Geschichte sehr publikumswirksam ist und dass die Menschen bereit sind, sich mit Geschichte, wenn sie einen persönlichen Punkt finden, auch aktiv auseinanderzusetzen.









 

1 Es handelt sich hierbei um die deutschsprachige Erstpublikation des ursprünglich (in leicht abweichender Form) in Spanien publizierten Textes. Ersterscheinung dieses Aufsatzes mit Ausnahme des Epilogs in: Arte Público Calaf 99/00. Proyectos, intervenciones y debates, Instituto de la Juventud, Madrid 2000 (Spanisch/Englisch); weitere Erscheinungen: ART PÚBLIC. CALAF 99/00. Projectes Intervencions Debats, Calaf/Barcelona 2001 (Katalan/Spanisch/Englisch).
2 Vgl. Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, Ausstellungskatalog Münchner Stadtmuseum, München 1995, S. 23.
3 Vgl. Paul Ricoeur, Gedächtnis - Vergessen - Geschichte, in: Jörn Rüsen / Klaus E. Müller (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 433-454, S. 436ff.
4 Vgl. Heidrun Friese, Bilder der Geschichte, in: Jörn Rüsen / Klaus E. Müller (Hg.), Historische Sinnbildung, S. 328-352, S. 328ff.
5 Vgl. Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 92-112, S. 93.
6 John Berger, Erscheinungen, in: ders. und Jean Mohr, Eine andere Art zu erzählen, München, Wien 1984, S. 82-129, S. 92.
7 Günter Metken, Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst, Köln 1977, S. 12.
8 Michael Palm: Der Standard, 22.4.1993, S. 12.
9 <http://www.t0.or.at/~memoryproject/calaf/galerie.htm>
10 Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Kai Uwe Hemken (Hg.), Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 92-112, S. 109.