eForum zeitGeschichte 3/4 2001
Geschichtswissenschaft, Fachinformation und das Internet1
von Wilfried Enderle
Geschichtswissenschaftliche
Fachinformation ist ein eher sprödes Thema, welches nicht oft
das Augenmerk der Historiker auf sich zu lenken vermag. Diesen
Eindruck muß man jedenfalls gewinnen, wenn man nach
einschlägigen Veröffentlichungen sucht. Die verdienstvolle
Arbeit von Peter Horvath ist eine der seltenen Ausnahmen, die den
eben konstatierten Regelfall einmal gebrochen hat2.
Zwar kommt ein wissenschaftlich arbeitender Historiker nicht ohne
professionelle Fachinformation aus, doch keiner will sich anscheinend
so recht mit ihr beschäftigen, geschweige denn darüber auch
noch nachdenken und schreiben. Das letzte Mal, daß
Fachinformation für Historiker ein wichtiges und aktuelles Thema
gewesen war, dürfte die Zeit der Planung, Konzeption und des
Scheiterns des sogenannten FIS 14, des Fachinformationssystems 14,
Ende der 1970er Jahre gewesen sein3.
Doch auch diese letzte Anstrengung, geisteswissenschaftliche
Fachinformation zu modernisieren und auf ein neues
informationstechnisches Fundament zu stellen, geriet rasch in
Vergessenheit - kaum einer der jüngeren Historiker dürfte
heute eine genauere Vorstellung mit diesem Vorhaben verbinden. Die
Idee, das Konzept, das dahintersteckte, nämlich die historische
Fachinformation zu modernisieren, hat freilich nichts von seiner
Relevanz verloren. Im Gegenteil, gerade dadurch, daß heute das
Internet als neues Medium ins Blickfeld auch der bislang weniger
computerliteraten Historiker gerät, gewinnt das Thema eine neue
Aktualität. Vielleicht bietet das Internet der
Geschichtswissenschaft ja gleichsam eine zweite Chance zur
Modernisierung ihrer Fachinformation, nachdem das FIS 14 nie
realisiert wurde. Daher könnte es heute wieder lohnend sein,
sich mit dem Thema "Geschichtswissenschaft, Fachinformation und das
Internet" auseinanderzusetzen.
Das Internet hat das
Potential, die bisherige Struktur des wissenschaftlichen Publizierens
zu verändern; vielleicht sogar tiefgreifend zu verändern.
In welchem Umfang es dies auch für die Geschichtswissenschaft zu
tun vermag, ist sicherlich noch nicht en détail zu erkennen.
Wenn man aber einmal von der Prämisse ausgeht, daß sich
auch für die Historiker in Zukunft die mediale Form ihrer
Publikationskultur verändern wird, so wäre dies ein
Ereignis ersten Ranges für die Geschichtswissenschaft. Denn das
Publizieren, das Öffentlichmachen von Forschungsergebnissen
bildet zusammen mit der systematischen Erschließung dieses
Informationsraums die materiale Basis jeder Wissenschaft. In
verschiedenen Fächern, insbesondere in den Naturwissenschaften
und der Mathematik, wird seit geraumer Zeit bereits intensiv über
dieses Thema und die möglichen Konsequenzen für das eigene
Fach diskutiert; aber auch über neue und alternative Modelle des
"scholarly publishing" nachgedacht4.
Unter den Historikern ist einer der wenigen Vorreiter einer solchen
Diskussion der Amerikaner Robert Darnton, der sich insbesondere auch
in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der American Historical
Association (AHA) damit auseinandergesetzt hat5.
In Deutschland gibt es hingegen in der Geschichtswissenschaft nur
erste Ansätze, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, von
einer breiten Rezeption dieser Diskussion ist man aber noch ebenso
weit entfernt wie von der Erkenntnis der Komplexität des
Problems.
Daß es sich hier um keine rein akademischen
Fragen handelt, zeigen konkrete Projekte wie zum Beispiel das
amerikanische History E-Book Project6.
Finanziert von der Andrew Mellon Foundation mit 3 Mio. $ und getragen
von dem American Council of Learned Societies hat das Projekt zwei
Ziele: zum einen die Konvertierung von 500 großen historischen
Monographien in elektronische Form; und zum anderen, was noch sehr
viel wichtiger ist, anzuregen, daß ungefähr 70 genuin
elektronische Monographien publiziert werden, Monographien, denen
dieser altmodische Name wahrscheinlich gar nicht mehr gerecht werden
kann, da sie die Potentialität des neuen Mediums in seiner
ganzen Breite erproben sollen. Wissenschaftspolitisch gesehen geht es
darum, die amerikanischen Historiker auf das elektronische
Publizieren einzuschwören. Und denkt man an kommerzielle
Angebote in den USA, wie das "History Resource Center" der Gale
Group7,
so wird deutlich, daß bereits die Collegestudenten und
Undergraduates an das neue Medium gewöhnt werden sollen. Wie
weit die aktuelle Entwicklung in Deutschland ist, sei später
noch umrissen.
Mit dem Internet als neuem Publikationsmedium
für die Wissenschaften sind natürlich viele Fragen und
offene Probleme verbunden. Dazu gehören das grundlegende Thema
der Informationsfreiheit und des uneingeschränkten Zugriffs auf
digitale Publikationen; aber auch das Problem der Auswahl und
Evaluierung geschichtswissenschaftlicher Informationsräume im
Internet sowie konkrete Fragen der Erschließung dieser
Informationsräume. Und nicht zuletzt ist eines der entscheidenen
Probleme: Wie werden digitale Veröffentlichungen archiviert, wie
wird ihre künftige Lesbarkeit gewährleistet? Die ganze
Komplexität des Themas kann in diesem Beitrag nicht diskutiert
werden. Es soll auch nicht der Versuch unternommen werden, einen
Überblick darüber zu geben, was es aktuell schon an
geschichtswissenschaftlich relevanten Informationen und Projekten im
Internet gibt. Dazu gibt es mittlerweile eine Reihe neuerer
Publikationen wie das jüngst erschienene "Internet-Handbuch
Geschichte"8.
Im folgenden sollen einige grundsätzliche Überlegungen zum
Thema "Geschichtswissenschaft, Fachinformation und das Internet"
vorgestellt werden, wobei es für einen Historiker natürlich
naheliegt, zunächst einmal nach der historischen Entwicklung,
der Geschichte der Institutionalisierung seiner Fachinformation zu
fragen (Abs. 2), um vor dieser Folie sich mit den aktuellen und neuen
Tendenzen auseinanderzusetzen. Anschließend soll kurz und
kursorisch und beschränkt auf die deutsche
Geschichtswissenschaft skizziert werden, wie sich
geschichtswissenschaftliche Fachinformation im Internet zu
institutionalisieren beginnt (Abs. 3), um danach zu fragen, wie in
Zukunft eigentlich eine moderne, den informationstechnischen
Möglichkeiten des Internets angemessene Erschließung
historischer Fachinformation aussehen könnte (Abs. 4).
Daß die deutsche
Geschichtswissenschaft keine intensive Diskussion über das Thema
Fachinformation und Internet führt, hat sicherlich eine ganze
Reihe unterschiedlicher Gründe. Nicht zuletzt dürfte eine
beträchtliche Rolle der Umstand spielen, daß das Thema des
"Computing in the Humanities" bei deutschen Historikern noch nie
eine breitere Resonanz gefunden hat. Ein weiterer und nicht
unwichtiger Grund mag indes darin liegen, daß im
Selbstverständnis des Faches zuwenig verankert ist, daß
die Geschichtswissenschaft in ihrer modernen Ausprägung nicht
nur einem bestimmten methodischen und inhaltlichen Kanon verpflichtet
ist, sondern ebenso untrennbar mit der Entstehung und Entfaltung
eines modernen Wissenschaftsbetriebs, der Herausbildung spezifischer
geschichtswissenschaftlicher Institutionen verbunden ist. Unter denen
wiederum die Fachinformation in ihren verschiedenen Ausprägungen
eine wichtige Stellung einnimmt, da sie eine der grundlegenden
Voraussetzungen für das Funktionieren von Wissenschaft überhaupt
ist. Wenn man begreifen will, welche Herausforderungen das Internet
an geschichtswissenschaftliche Fachinformation stellt, tut man also
gut daran, und dies gerade auch als Historiker, einmal über die
Geschichte der Fachinformation des eigenen Faches nachzudenken.
Wenn man dies tut, wird erkennbar, daß eine gleichsam
stillschweigende Voraussetzung der Geschichtswissenschaft - wie jeder
anderen Wissenschaft auch - darin besteht, daß sich seit der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine komplexe
Fachinformationsinfrastruktur, bestehend aus Rezensionszeitschriften,
Fachbibliographien sowie Forschungs- und Nationalbibliotheken
herausgebildet hat9.
Die nicht nur dafür sorgt, daß wissenschaftliche
Forschungsergebnisse veröffentlicht werden können, sondern
daß sie zudem systematisch und laufend erschlossen werden - und
andere Historiker sie damit zur Kenntnis nehmen können -; und
daß sie vor allem auch konkret zugänglich sind und auf
Dauer archiviert werden, eine nicht unwichtige methodische Funktion
für wissenschaftliche Forschung, da nur so die ständige
Überprüfbarkeit von Belegen möglich ist. Eine
geschichtswissenschaftliche Fachinformation gibt es mithin seit dem
19. Jahrhundert, wobei sie sich erst seit den 1870er Jahren
allmählich zu professionalisieren begann. Was für die
deutsche Geschichtswissenschaft darunter zu verstehen ist, braucht
hier nicht näher erläutert werden, da die konkreten
Emanationen geschichtswissenschaftlicher Fachinformationen zum
Grundwissen jeden Historikers gehören (sollten), angefangen von
den zehn Auflagen des Dahlmann-Waitz10
über die aus der von Ludwig Quidde begründeten Zeitschrift
für Geschichtswissenschaft hervorgegangenen Jahresberichte für
deutschen Geschichte11,
die verschiedenenen landeskundlichen Bibliographien12
sowie die in den 1980er Jahren neu entstandene Historische
Bibliographie13.
Diese Fachbibliographien waren Teil eines allgemeinen
Institutionalisierungsprozesses einer sich akademisch
professionalisierenden Geschichtsschreibung. Historiker, die sich mit
der Geschichte ihres eigenen Faches beschäftigen, thematisierten
bis vor wenigen Jahren in der Regel nur die methodische und
inhaltliche Entwicklung der Disziplin, sie schrieben eine Geschichte
der Geschichtsschreibung14.
Erst allmählich gerät in den Blick, ohne daß dieser
Sachverhalt bereits allzu tief im Selbstverständnis der Zunft
verankert ist, daß die Entstehung der modernen
Geschichtswissenschaft seit der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts, die Professionalisierung der Geschichte als
Wissenschaftsfach untrennbar verbunden ist mit ihrer
Institutionalisierung - beide Vorgänge waren nur die
unterschiedlichen Seiten einer Medaille. Daß dieser Vorgang
allmählich ins Blickfeld der Historiker rückt, ist in
Deutschland auch den Initiativen des Leipziger Historikers Matthias
Middell zu verdanken, der in einer Reihe von Kolloquien und daraus
hervorgegangenen Sammelbänden auf die verschiedenen Formen der
Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft hinwies15.
Die wesentlichen Säulen der Institutionalisierung der
Geschichtswissenschaft seit der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts waren in knappem und stichwortartigen Umriß16:
Die Entstehung großer nationaler Quelleneditionsvorhaben.
Die Gründung von Kommissionen und Verbänden, vor allem auch im Bereich der Regionalgeschichte.
Die Etablierung regelmäßiger Konferenzen wie z.B. des Historikertags.
Die Entstehung historischer Seminare an den Universitäten und unabhängiger Forschungsinstitute.
Die Entfaltung eines spezifisch geschichtswissenschaftlichen Publikationswesens, das insbesondere mit der Gründung von Fachzeitschriften nach dem Vorbild der Historischen Zeitschrift seinen Anfang nahm, und in diesem Kontext auch die Etablierung einer eigenen Fachinformationsinfrastruktur, welche diesen neu entstandenen Informationsraum geschichtswissenschaftlicher Publikationen erschloß.
Was die Fachinformation
angeht, so ist es wichtig zu sehen, daß die Infrastruktur, die
sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete,
über den engeren Bereich historischer Institutionalisierung
hinausreichte. Dazu gehörten auch Wissenschaftsverlage,
Universitäts- und Nationalbibliotheken sowie national- und
universalbibliograpische Unternehmungen. Es entstand ein komplexes
Netzwerk, das neben der engeren Professionalisierung der
Geschichtswissenschaft die Archivierung und vor allem die
Erschließung von Informationen professionalisierte. Ein Aspekt,
der von Historikern oft übersehen wird, da er eine gleichsam
stets präsente, aber banale und daher meist nicht eigens
reflektierte Basis ihrer Forschungen darstellt. Erst seitdem die
Kommunikationsgeschichte, auch angestoßen durch die
Konfrontation der Historiker mit dem aktuellen Phänomen des
Internets, sich als neues Forschungsfeld zu etablieren beginnt,
richtet sich der Blick auch auf die damals entstandenen Netzwerke des
Wissens und ihre spezifischen sozial- und wissenschaftshistorischen
Voraussetzungen17.
Daß sich bis 1900 eine komplexe
wissenschaftsorganisatorische Infrastruktur entwickelt hatte, bei der
Nationalbibliotheken, nationalbibliographische Unternehmen,
wissenschaftliche Bibliotheken und fachbibliographische Projekte
zusammenwirken, war und ist mithin eine wichtige institutionelle
Basis für eine als wissenschaftliche Disziplin betriebene
Geschichtsschreibung. Sie bildet den materialen Kern des
Gedächtnisses der Geschichtswissenschaft. Geschichte als
Wissenschaft im modernen Sinne funktioniert nicht nur, weil sich im
Rahmen eines längeren Prozesses ein moderner, spezialisierter
und arbeitsteiliger Wissenschaftsbetrieb herausgebildet hat, sondern
auch weil in enger Verbindung damit eine komplexe Infrastruktur für
wissenschaftliche Fachinformation entstand; in enger Verbindung, aber
durchaus mit eigener Professionalisierung außerhalb der
Geschichtswissenschaft als Informationsfundament für den
modernen Wissenschaftsbetrieb überhaupt18.
Diese bis heute bestehende Infrastruktur ist freilich eine des
Mediums Buch; des gedruckten Buches, wie man heute sagen kann, ohne
die stilistische Sünde eines Pleonasmus zu begehen.
Wenn nun aber das Internet ein Medium für geschichtswissenschaftliche Publikationen wird, dann stellt sich natürlich die Frage, ob die geschichtswissenschaftliche Fachinformation sich neu institutionalisieren muß. Und das schließt auch die Frage ein, ob sie völlig neue informationstechnische Formen ausbilden muß. Jeder, der anfängt, sich darüber zu informieren, was es zur Zeit bereits an geschichtswissenschaftlicher Fachinformation im Internet gibt, wird rasch feststellen, daß sie sich bereits zu institutionalisieren beginnt. Wenn man versucht, knapp zusammenzufassen, was sich die letzten Jahre entwickelt hat, so kann man drei Entwicklungsstränge voneinander unterscheiden:
Am Anfang standen thematische Sites einzelner Historiker, gleichsam graue Literatur, die oft, nicht immer, populärwissenschaftlich orientiert waren und sind und die ein Spektrum unterschiedlichster Informationen anbieten von ebenso unterschiedlicher Qualität; meist aber auf alle Fälle über mehr oder minder umfangreiche Linklisten versuchen, einen spezifischen Informationsraum zu generieren. Für das Verständnis der innovativen Möglichkeiten des Internets ist es wichtig, zu sehen, daß solche Sites nicht vorschnell abqualifiziert werden, weil ihnen der institutionelle Hintergrund einer Forschungseinrichtung oder eines Wissenschaftsverlages fehlt. Denn es gehört gerade zu den Innovationen des Mediums, daß es in weitaus stärkerem Maß das individuelle Publizieren unterstützt, als dies bislang möglich war - ein entscheidender Aspekt, der in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Entscheidend ist, daß geschichtswissenschaftliche Fachinformation diese Sites nicht ausgrenzt, sondern diejenigen, die wissenschaftlichen Kriterien entsprechen, mit in ihr Erschließungskonzept aufnimmt.
Neben Sites einzelner Historiker entstanden dann aber auch rasch Unternehmungen, die im Rahmen eingeführter historischer Institute konzipiert und umgesetzt wurden und die das Ziel verfolgten, für Historiker die neuen wissenschaftlichen Kommunikations- und Publikationsformen des Internets nutzbar zu machen. An erster Stelle muß hier sicherlich das im Rahmen des H-Net entstandene Diskussionsforum H-Soz-u-Kult mit seinen Rezensionen, Interview- und Konferenzprojekten genannt werden, das institutionell an das Historische Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin angebunden ist und mittlerweile zu einem wichtigen und aus dem Alltag des Historikers nicht mehr wegzudenkenden Informationsmedium geworden ist19. Weiterhin entstanden in den letzten Jahren zahlreiche Projekte, bei denen interessanterweise im Mittelpunkt das Zugänglichmachen von Quellenmaterial stand, wobei in diesen Umkreis die ganzen Digitalisierungsprojekte größeren und kleineren Stils gehören, die Quellen in ihrer originalen Form als digitales Abbild ins Netz stellen20. Eines derjenigen Projekte, die, wie das History E-Book-Projekt, sich an die Aufgabe wagten, das Internet auch zum Publizieren zu nutzen, war der Server Frühe Neuzeit (SFN)21, der in einem Kooperationsprojekt des Historischen Seminars der Universität München und der Bayerischen Staatsbibliothek aufgebaut wurde und der sich gerade unter der URL historicum.net anschickt, weitere über die Frühe Neuzeit hinausgehende digitale Publikationsplattformen anzubieten. Dazu gehören neben einer Rezensionszeitschrift auch Möglichkeiten, Magisterarbeiten zu publizieren (Magi-e) oder Lehrmaterialien in digitaler Form aufzulegen (Projekt Melissa)22.
Neben diesen Sites, deren primäres Ziel das Zugänglichmachen von Quellenmaterial, Informationen oder Publikationen über das Internet war, entstanden auch Sites, die in mehr oder weniger systematischer Form versuchten, eine professionelle Erschließung des Internets anzubieten, also Fachinformation im engeren Sinne betreiben. Diesem Zweck dient die im Rahmen der Virtual Library des W3-Consortiums angesiedelte Virtual Library History, deren deutscher Zweig von dem an der Universität Erlangen lehrenden Stuart Jenks organisiert wird23. Dazu kommt als ein Beispiel für ein sogenanntes Subject Gateway, einen Fachkatalog für Internetressourcen, der History Guide, der an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen aufgebaut wurde und mittlerweile im Kontext einer virtuellen Fachbibliothek zur angloamerikanischen Geschichte gepflegt wird24. Von der Konzeption vergleichbare Projekte wie Humbul in England oder Agora in Schweden ließen sich in diesem Kontext ebenfalls nennen25. Mit speziellerem Fokus wären anzuführen das Zeitgeschichte-Informations-System26 oder der History Journals Guide27.
Damit liegen erste
Anfänge einer Institutionalisierung vor, die freilich von einer
systematischen Erschließung des geschichtswissenschaftlichen
Informationsraums im Internet noch weit entfernt ist. Das liegt auch
daran, daß all diese Projekte in gewisser Weise noch an
konventionellen Publikations- und Erschließungsformen
orientiert sind. Und natürlich auch noch weit davon entfernt
sind, ein ähnliches komplexes, infrastrukturelles Netzwerk zu
bilden, wie es für das gedruckte Buch besteht. Sowohl das
Konzept der verteilten Linklisten der Virtual Libraries als auch das
der Subject Gateways, der Fachkataloge, basiert auf der
intellektuellen Erschließung einzelner Ressourcen, und beide
ähneln darin herkömmlichen Fachbibliographien oder
Katalogen. Denn das Faktum, daß man von dem Katalog aus direkt
die URL einer Site anklicken kann, ist zwar eine medientechnische,
aber keine konzeptionelle Innovation im Hinblick auf die Erschließung
von Informationen.
Dazu kommt, daß das Internet jeden
Versuch seiner systematischen und für eine Fachwissenschaft
relevanten Erschließung mit spezifischen Problemen
konfrontiert. Dies fängt bereits damit an, daß es ungleich
schwieriger ist als beim Medium Buch, geschichtswissenschaftliche
Informationsräume klar und vollständig zu definieren.
Während Bücher über die Verlage, bei denen sie
publiziert werden, sekundäre Qualitätskriterien besitzen,
gehört es gerade zu den Innovationen des Web, daß es dort
verhältnismäßig einfach ist, außerhalb dieser
Institutionen zu publizieren, also eigene Sites aufzulegen. Damit
entstehen neue Informationsräume außerhalb etablierter
Fachinformationsstrukturen. Bei denen auch, ein weiteres Problem,
nicht so einfach der Überblick über laufend neu aufgelegte
Sites zu gewinnen ist, da Instrumente, die einer
Nationalbibliographie analog wären, fehlen28.
Weitere spezifische Probleme des neuen Mediums ließen sich
nennen, wie die laufende Veränderbarkeit von Sites. Und
vielleicht das wichtigste Problem: Wie werden Websites, welche die
medialen Träger dieser historischen Fachinformation sind,
archiviert, wie werden sie in Zukunft dem informationssuchenden
Historiker zugänglich sein?
Fachinformation im Internet
ist also mit einer ganzen Reihe neuer Aufgaben und Problemen
konfrontiert. Da Fragen wie die der Archivierung oder
nationalwebliographischer Funktionen über den Bereich
geschichtswissenschaftlicher Fachinformation hinausgehen, seien sie
hier ausgeklammert. Was indes im engeren Zugriffsbereich der
Historiker oder derjenigen Einrichtungen liegt, die historische
Fachinformation im Internet betreiben, ist das Thema der konkreten
informationstechnischen und sachlichen Erschließungsformen.
Die nächste Frage
ist mithin, ob wir für das Internet nicht völlig neue
technische und inhaltliche Konzepte der Erschließung von
Fachinformationen benötigen? Wenn man sich mit dieser Frage
auseinandersetzt, müßte man auf zwei Konzepte eingehen:
das der Suchmaschinen der zweiten Generation, die auch automatisierte
Erschließungsformen integrieren; und das Konzept des Semantic
Web. Der Kontext der Suchmaschinen sei hier ausgeblendet, da sie zur
Zeit für die fachwissenschaftliche Erschließung des
Internets noch eine Reihe von ungelösten Problemen aufweisen29.
Es sei daher von der These ausgegangen, daß künftige
fachwissenschaftliche Erschließungsformen sich die Idee des
Semantic Web zu eigen machen sollten. Begriff und Konzept sind von
Tim Berners-Lee geprägt, und zwar weil er selbst sah, daß
weder der ursprüngliche Ansatz der Virtual Library noch das
Konzept der universalen Suchmaschinen ausreichte, um eine wirklich
auf Dauer tragfähige Konzeption zur Erschließung des Web
zu bilden30.
Die Grundidee des Semantic Web besteht darin, daß "...
computers must have access to structured collections of information
and sets of inference rules that they can use to conduct automated
reasoning.31"
Auch wenn Berners-Lee, ebenso wie andere Apologeten des Web, seiner
Idee immer auch hohe utopische Erwartungen unterlegt und das Semantic
Web als Basis eines neuen Quantensprungs für das menschliche
Wissen insgesamt ansieht, so kann die Frage, inwieweit all seine
utopischen Implikationen Wirklichkeit werden können, einmal
außer acht gelassen werden. Fest steht, daß erste
Schritte zur konkreten Entwicklung eines Semantic Web bereits gemacht
werden. Und diese ersten Schritte sind XML, die eXtensible Markup
Language, sowie RDF, das Resource Description Framework. XML soll als
Datenformat ein flexiblerer Nachfolger für HTML werden, da es -
im Unterschied zu HTML - zwischen Struktur- und Layoutinformationen
unterscheidet32.
RDF ist ein Rahmenmodell zur Definition und Beschreibung von
Metainformationen; ein Modell, das nur die Form, nicht aber das
Vokabular definiert, in der Praxis allerdings durch eine
XML-kompatible Syntax ausgedrückt wird. RDF unterscheidet
zwischen Ressourcen, Eigenschaften und Werten von Ressourcen sowie
Aussagen über Ressourcen33.
Und damit sollen hinreichend komplexe Metainformationen in normierter
Form über beliebige Ressourcen ausgedrückt werden können.
Diese Standards und Regelwerke sollen es - in anderen Worten -
ermöglichen, daß komplexe Informationen über Sites in
standardisierter Form abgelegt werden können; entweder als Teil
der Webpages eines Site selbst oder in eigenen Metadata Repositories.
Damit aber hat man heute schon konzeptionelle Voraussetzungen, um
auch für die Geschichtswissenschaft neue Erschließungskonzepte
realisieren oder zumindest entwerfen zu können.
Was kann
nun die Geschichtswissenschaft konkret mit derartigen Modellen
anfangen? Ein anschauliches Beispiel, was möglich sein könnte,
vermittelt das History Event Markup and Linking Project von Bruce
Robertson, das als Kooperationsprojekt zwischen der kanadischen Mount
Allison University und der University of Virginia durchgeführt
wird34.
Die Idee dieses Projektes ist, daß ein Großteil
historischer Websites Bezug zu historischen Ereignissen haben.
Robertson schlägt ein XML-basiertes Konzept vor, um historische
Ereignisse durch die Kategorien Ort, Zeit und Ereignis zu kodieren.
Diese Daten können dann in Form von Timelines oder Tabellen
historischer Ereignisse oder auch über Karten graphisch
präsentiert werden und jeweils zu den Dokumenten und Ressourcen
führen, die sie repräsentieren. Da Robertson sich an RDF
und XML als Standards orientiert, paßt sein Konzept mithin
bereits in das Semantic-Web-Modell.
Die diesem Projekt
zugrundeliegende Idee kann man durchaus weiter ausbauen und für
die Fachinformation im engeren Sinne der Erschließung
geschichtswissenschaftlicher Sites nutzbar machen35.
Dazu müßte man die bei Robertson auf die historischen
Ereignisse zugeschnittene Kategorisierung ausbauen. Im optimalen Fall
hieße dies - und es ist völlig klar, daß es sich
hier zunächst nur um ein rein akademisches Glasperlenspiel
handeln kann, ja, vielleicht fast eine utopische Forderung -, daß
man ein Kategorienschema bräuchte, das umfassend das gesamte
Feld der historischen Fachinformation abdeckte. Mit anderen Worten
und direkter formuliert: Man bräuchte eine international
anerkannte Fachklassifikation für die Geschichtswissenschaft.
Eine Klassifikation bietet sich im Unterschied zu einem Fachthesaurus
allein schon deshalb an, weil das Problem der Multilingualität
keine Rolle spielt. Denn die Notationen eines Klassifikationsystems
bilden eine sprachunabhängige konsistente semantische Struktur.
Wobei man sich nicht zu sehr von der Vorstellung herkömmlicher
hierarchischer oder systematischer Fachklassifikationen leiten lassen
sollte, da ein Konzept wie das Semantic Web natürlich sehr viel
besser mit facettenorientierten Systemen zurechtkommen kann. Und das
bedeutet, daß man dieses sehr akademische Ziel einer
allgemeinen Fachklassifikation natürlich auch herunterbrechen
kann auf kleinere Informationsräume. Und damit wird auch seine
konkrete Anwendbarkeit schon sehr viel realistischer.
Geht
man nun von einem derartigen Konzept aus, bräuchte man für
eine geschichtswissenschaftliche Erschließung des Internets
zunächst zwei infrastrukturelle Voraussetzungen: Einrichtungen,
bei denen Historiker ihre neu aufgelegten Websites oder digitalen
Publikationen anmelden könnten; und eine Einrichtung, welche für
definierte Informationsräume, also zum Beispiel die deutsche
Geschichte, die Geschichte Österreichs, die Geschichte des
Dritten Reiches usw., ein allgemein anerkanntes Klassifikationssystem
pflegt. Im günstigsten Fall würde dann ein Historiker, der
eine digitale Publikation ins Netz stellt oder eine Website aufbaut,
seine Publikation dort anmelden und in die dazugehörigen
Metadaten die entsprechenden Notationen einer solchen
Fachklassifikation eintragen. Dann könnte man in der Tat die
Erschließung eines geschichtswissenschaftlichen
Informationsraums im Internet auf neue Grundlagen stellen. Denn dann
wäre es zum Beispiel vorstellbar, daß qualifizierte
Suchmaschinen automatisch solche Räume nach unterschiedlichen
Kriterien erschlössen; dann könnten sogar einzelne
Historiker je nach ihren individuellen Forschungsinteressen
intelligente Agenten auf die Suche ins Netz schicken; und auch das
Feld des "automatic citation linking" würde für die
Geschichtswissenschaft geöffnet.
Diese Ideen sind, das
sei hier betont, nicht neu und original, wie allein das History Event
Markup and Linking Project schon gezeigt hat. Im wesentlichen gehen
diese Ideen auf Modelle zurück, welche die Mathematiker
entwickelt haben, die gerade auch das entscheidende Instrumentarium
zu deren Realisierung besitzen: nämlich eine international
anerkannte Fachklassifikation, die MSC, die Mathematical Subject
Classification36.
Und das zeigt zugleich auch, daß die Idee an sich gar nicht so
utopisch ist. Jedenfalls dann nicht, wenn die Fachverbände und
-gesellschaften ein solches Konzept mittragen. Angesichts des
generellen Stands der geschichtswissenschaftlichen Fachinformation
dürfte man freilich davon jedoch noch weit entfernt sein.
Andererseits steht es außer Frage, daß das Internet die
Historiker aus ihren regionalen Ecken holt und stärker zu einer
weltumspannenden scholarly community macht - allein Existenz und
Erfolg des H-Net sind ein augenfälliger Beweis dafür. Und
ebenso erkennbar ist, daß das Internet als Medium ganz
allgemein den Trend zu globaler Standardisierung und Normierung
fördert. Denn ohne solche Standards wäre das Netz selbst
überhaupt nicht existent. Und kein Bereich, der das Netz
intensiv nutzt, wird sich diesen Tendenzen völlig entziehen
können.
Wenn ein derartiges Modell auch nur im Ansatz
realisiert würde, hätte es natürlich auch Folgen für
die Institutionalisierung historischer Fachinformation. Und damit sei
der Bogen wieder zum Ausgangspunkt zurückgeschlagen. Bislang
sind die wesentlichen Träger herkömmlicher Fachinformation
Verlage, fachbibliographische Unternehmen und Forschungsbibliotheken.
Im Falle des Semantic Web würden die Autoren, zumindest
diejenigen, die außerhalb von Verlagsservern publizieren, eine
neue Rolle bekommen. Sie könnten selber über die Einbindung
ihrer Publikationen in einen bestimmten Informationsraum bestimmen.
Die Frage, welche Rolle die Verlage übernehmen sollen und
können, sei in diesem Kontext einmal beiseite gelassen.
Entscheidend für das Funktionieren eines derartigen Konzeptes
wäre indes, daß die Standards wie die
Klassifikationsstrukturen, auf denen es gründet, gepflegt
würden. Dafür bräuchte man auch in Zukunft also
geschichtswissenschaftliche Einrichtungen, ebenso wie man auch
weiterhin Institutionen benötigte, bei denen Sites registriert
werden können; und auch solche, die Metadata Repositories
pflegen. Historische Fachinformation im Internet bedarf mithin nicht
weniger als diejenige des Printmediums eines komplexen
infrastrukturellen Netzwerkes. Dieses muß sich freilich erst
neu herausbilden; und vor allem, es muß neue
informationstechnische Konzepte zur Erschließung
geschichtswissenschaftlicher Fachinformation im Internet rezipieren
und realisieren, wenn es nicht hinter den Stand der Fachinformation
in anderen Fächern zurückfallen will.
Die wesentlichen Argumente und Überlegungen seien nochmals in wenigen Thesen zusammengefaßt:
Das Internet ist derzeit dabei, in vielen Wissenschaftsfächern die medientechnische Form des Publizierens zu verändern. Im Unterschied zu anderen Fachgebieten gibt es dazu bei den Historikern noch keine breite öffentliche Diskussion über mögliche Folgen für das eigene Fach und mögliche neue Konzepte des geschichtswissenschaftlichen Publizierens.
Ein Grund für das Fehlen einer breiten öffentlichen Debatte dürfte auch sein, daß im Selbstverständnis der Historiker kaum verankert ist, daß die Geschichtsschreibung als wissenschaftliche Disziplin betrieben nicht nur auf bestimmten inhaltlichen und methodischen Voraussetzungen gründet, sondern ebenso auch auf einem modernen, arbeitsteiligen Wissenschaftsbetrieb, der von verschiedenen Institutionen getragen wird. Unter denen wiederum die Einrichtungen einer modernen Fachinformation wie Fachbibliographien, Nationalbibliographien und Forschungsbibliotheken eine wesentliche Grundlage für das Funktionieren des Faches bilden.
Mit dem Internet als wissenschaftlichem Publikationsmedium stellt sich die Frage, ob diese für das Buch entstandene Infrastruktur sich neu organisieren muß. Erste Ansätze einer Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft im Internet lassen sich erkennen, wobei die bislang entwickelten Publikations- und Erschließungsformen sich noch stark an traditionellen Konzepten aus der Welt des Buches orientieren.
Neue, den informationstechnischen Möglichkeiten des Internets adäquatere Erschließungsformen geschichtswissenschaftlicher Fachinformation sollten das Konzept des Semantic Web und der Möglichkeiten, die es für Historiker bietet, bedenken. Dabei wird deutlich, daß es für eine Umsetzung des Potentials dieses Konzeptes notwendig wäre, allgemein anerkannte Fachklassifikationen für Historiker zu haben, welche definierte Informationsräume mit einem standardisierten Vokabular erschließen könnten.